Corona und Allergie
Seit ein paar Tagen wirbelt das Coronavirus unser aller Leben gewaltig durcheinander. In einem kaum zu begreifenden Tempo brechen Maßnahmen zur Verlangsamung des Pandemieausbruchs über uns herein und verändern unseren gesamten Alltag. Die Maßnahmen sind drastisch und in Friedenszeiten so noch nie dagewesen. Und doch denke ich in den letzten Tagen an vielen Stellen, vor allem, wenn ich meinen Kindern die Situation erkläre: Das kommt mir alles seeehr bekannt vor! 🤔 Auf einer anderen Ebene natürlich, aber bei näherer Betrachtung haben das Leben mit Allergien und die jetzigen Corona-Maßnahmen tatsächlich einiges gemeinsam!
Klingt verrückt? Ja, ist es auch!
Aber „Jede Krise birgt eine Chance“, und so ergreife ich die Gelegenheit für einen gewagten Vergleich, der vielleicht dazu beiträgt, dass bei der allgemeinen Bewusstseinserweiterung unserer Gesellschaft auch ein bisschen mehr Bewusstsein und Verständnis für das Leben mit (echten!) Nahrungsmittelallergien entsteht. Ja, dieser Beitrag ist lang, aber wir haben jetzt viel Zeit zum Lesen, also lies ihn zu Ende und teile ihn mit allen, die du kennst – es lohnt sich!
Vorweg sei gesagt: Ich möchte diese Pandemie keinesfalls verharmlosen! Mir ist klar, dass dieser Vergleich wissenschaftlich, medizinisch und statistisch mehr als hinkt. Corona ist ein Virus, das sich sehr schnell und leicht von Mensch zu Mensch überträgt. Allergene sind Proteine, die (normalerwiese) weder per Tröpfchen übertragen werden können noch ansteckend sind. Weder Ursachen noch Fallzahlen noch Todesfälle noch Behandlungsmöglichkeiten sind auch nur annähernd vergleichbar. Für seriöse Informationen hierzu verlinke ich am Ende des Artikels die wichtigsten Quellen.
Hygiene:
Vor ein paar Tagen kursierte ein Corona-Meme im Netz, das es ziemlich auf den Punkt gebracht hat: Händewaschen, sich nicht ständig unbewusst ins Gesicht, besonders an Mund und Nase fassen, Türklinken etc. nicht unbedingt anfassen und vor allem danach wieder: Händewaschen… DAS Allergie-Mantra! Wirklich, es hilft nicht nur gegen die ungewollte Übertragung von Viren, sondern auch von Allergenen! Und ja, Händewaschen reicht völlig aus, Desinfektionsmittel ist nicht notwendig. Zumal Desinfektionsmittel nicht automatisch antiviral sind und keine Allergene entfernen.
(Quelle unbekannt; frei übersetzt: „Alle so: Reinigt alles, fasst nichts an, alles ist gefährlich! – Allergiemütter so: Willkommen im Club!“)
Hamsterkäufe:
…sind unnötig, in jeder Hinsicht. Sowohl bei Corona als auch bei Allergien. Und trotzdem passieren sie, aus irrationaler Sorge heraus. Allergie-Eltern kennen Hamsterkäufe gut: Dieses Gefühl, wenn du im ganz normalen Supermarkt eine Schokolade entdeckt hast, die ohne „Spuren von Nüssen“ ist, da nimmst du gleich die haushaltsübliche Menge von einer Palette mit, man weiß ja nie, ob sie morgen noch da sind… 😉 Aber Hamsterkäufe bedeuten in diesen Zeiten für manche Menschen mit Ernährungseinschränkungen ein wirkliches Problem: Wenn z.B. Zöliakie-Betroffene keine glutenfreien Lebensmittel mehr bekommen, weil sich andere damit eingedeckt haben, ist das ein Problem. Wenn Milchallergiker keine pflanzliche Alternative mehr bekommen, ist das ein Problem. Und das potenziert sich, denn Hamsterkäufe verursachen weitere Hamsterkäufe.
Hasenkauf statt Hamsterkauf?
Symptome: Erkältung oder Corona/Allergie?
Symptome wie Schnupfen, Husten, Heiserkeit können verschiedene Ursachen haben. Wenn ich gerade in einem Risikogebiet war oder Kontakt mit einem nachweislich mit Corona Infizierten hatte, liegt der Verdacht relativ nah. Aber wahrscheinlich fragen sich gerade viele von uns: Ist mein Kind „normal“ erkältet oder vielleicht doch infiziert? Passenderweise beginnt auch gerade die Heuschnupfensaison, die ebenfalls zu erkältungsähnlichen Symptomen führen kann. Dieses „Starren wie das Kaninchen auf die Schlange“, Symptome wahrnehmen und ihre Ursachen hinterfragen – das kennen Allergie-Eltern nur zu gut. Kommen die Quaddeln vom Essen oder von etwas anderem? Bleibt es bei „nur“ Quaddeln oder kommen andere Symptome dazu? Ist es ein Magen-Darm-Infekt oder doch eine allergische Reaktion? Keine Frage, eine anaphylaktische Reaktion kann man nicht verpassen oder missverstehen, aber die ersten Anzeichen sind nicht immer eindeutig. Noch so eine Parallele…
Verläufe: von mild bis schwer
In den allermeisten Fällen verläuft eine Corona-Infektion mild; schwere Verläufe sind eher selten. Bestimmte Risikogruppen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf, der im Krankenhaus oder gar intensivmedizinisch behandelt werden muss und tödlich enden kann. Auch hier finden sich Gemeinsamkeiten: Allergische Reaktionen verlaufen in den meisten Fällen mild; schwere Anaphylaxien sind äußerst selten. Bestimmte Risikogruppen, z.B. mit Asthma oder schweren Anaphylaxien in der Vorgeschichte, haben ein höheres Risiko für schwere Verläufe und intensivmedizinischen Bedarf oder gar tödlichen Ausgang. Wie eingangs gesagt: statistisch keinesfalls vergleichbar!
Heilung oder Impfstoff:
…gibt es nicht, nur die medikamentöse Behandlung von Symptomen. Es wird aber intensiv daran geforscht, mit vielversprechenden Ansätzen. Gilt ebenfalls für beide, Corona und Nahrungsmittelallergien.
Alternatives Geschwurbel:
…gibt es dafür leider reichlich, sowohl bei Corona als auch bei Allergien. Nichts davon ist es wert, hier näher erwähnt zu werden, daher lasse ich es einfach.
(Edit am 18.03.2020: Da ich inzwischen einiges an alternativem Geschwurbel mitkriegen musste, ergänze ich noch:)
Verharmlosung, Verleugnung und Verdrängung:
„Es ist doch alles gar nicht so schlimm. Es sind gar nicht so viele krank oder gestorben, alles übertriebene Panikmache. Ich bin entspannt und mache normal weiter.“ Das erschreckt mich sehr! Und erinnert mich entfernt an: „Ihr übertreibt doch mit der Allergie und dem Spuren-Meiden! Dein Kind geht jetzt seit 2 Jahren hier in die Kita und es ist nie was passiert. Wahrscheinlich hat er gar keine Allergie und ihr wollt euch nur wichtig machen!“ Hm. Für beide gilt: Es geht nicht darum, was JETZT ist, sondern darum, was KOMMEN KANN und WIRD. Dass es uns JEZT gut geht und in der Vergangenheit gut ging, bedeutet nicht, dass es so bleibt. Es sei denn, wir treffen die gebotenen Vorsichtsmaßnahmen: Zuhausebleiben und Händewaschen beim einen, Händewaschen und Spuren meiden beim anderen Thema.
Prävention & Improvisation:
Alle Einschränkungen sind präventive Maßnahmen, die ausschließlich dazu dienen, die unweigerliche Ausbreitung der Infektion zu verlangsamen und damit das Gesundheitssystem nicht zusammenbrechen zu lassen. Das ist das einzig Sinnvolle, was wir derzeit tun können. Prävention nach dem Motto „Better safe than sorry“ (Besser auf Nummer Sicher gehen als es hinterher zu bereuen) ist auch das Leitmotiv des Allergielebens. Die Vorsichtsmaßnahmen mögen manchem übertrieben erscheinen, aber was ist die Alternative? Ist es das Risiko wert? Nein, normalerweise nicht. Dafür lernst du, dich auf alle möglichen Situationen einzustellen und zu improvisieren!
Verzicht & Disziplin:
Das wird gerade von uns erwartet: Sozialkontakte auf ein notwendiges Minimum reduzieren, keine Veranstaltungen, kein Sport, keine Kneipen- und Café-Besuche, keine privaten Feiern, kein Garnichts. Das fällt sehr vielen Menschen sehr schwer, denn es fehlt die Einsicht: Mir geht es gut, warum soll ich das tun? Dazu mehr weiter unten bei „Rücksicht & Solidarität“. Fakt ist: Verzicht und Disziplin gehören zum Alltag eines Nahrungsmittelallergikers. Alle essen Eis? Der Allergiker schaut zu – oder wartet zumindest ab, bis die Zutaten und mögliche Spuren abgeklärt sind. Nicht einfach zugreifen, sondern kontrolliert bleiben. Das verlangt gerade Kindern und Jugendlichen sehr, sehr viel ab!
Falsches Sicherheitsgefühl:
„Bisher bin ich gesund. Auch meine Freunde, Familie sind gesund. Die kenne ich alle gut, was soll da schon passieren?“ Hm, diese schräge Annahme erinnert mich an: „Kenne ich, hat mein Kind schon immer ohne Probleme gegessen.“ Oder auch: „Da sind doch keine Nüsse drin!“ Soll heißen, die bloße Annahme von „war schon immer so“ oder „wird schon nicht so sein“ verleitet dazu, etwas ohne Zutaten- oder Spuren-Check zu essen. Leider sieht man aber weder einem Menschen an, ob er das Coronavirus in sich trägt, noch einem Lebensmittel, ob es Erdnüsse oder Spuren von Erdnüssen enthält.
Und jetzt kommen wir zur absolut übergeordneten Parallele, da wird es richtig spannend!
Rücksichtnahme & Solidarität:
…zum Schutz von Risikogruppen: Genau das praktizieren wir hier gerade in ganz großem und quasi politisch und medizinisch verordnetem Stil. ALLE reduzieren ihre sozialen Aktivitäten, um EINZELNE zu schützen! WOW!!! Wie häufig erfahren Nahrungsmittelallergiker genau das Gegenteil: Warum sollen ALLE verzichten, bloß weil EINER gefährdet ist? Die einfache Antwort: Weil sie es können. Weil dieser kleine Schritt so viel bewirkt. Weil der EINZELNE zählt. Weil es bedeutsam ist, was ALLE EINZELN tun. Rücksichtnahme & Solidarität – ich hoffe so sehr, dass es viele Menschen auf vielen Ebenen zum Umdenken anregt!
Denn – und auch das erleben wir gerade in großem Stil – über allem schwebt die
Angst vor dem unsichtbaren Feind:
Dieser Feind kann überall sein und du weißt nicht, wann und wo und ob er dich überhaupt trifft. Corona oder versteckte Allergene, auch hier ergeben sich wiederum erstaunliche Parallelen. Diffuse Angst ist nie ein guter Ratgeber, wenn sie Überhand nimmt. Angst hat aber auch eine Schutzfunktion, die uns nicht leichtsinnig werden lässt. „Böse Angst“ vs. „gute Angst“, Panik vs. Vorsicht, das gilt für den Umgang mit Corona genauso wie mit Allergien.
Letztendlich heißt es für alle, egal, ob im Corona- oder Allergie-Leben:
Balance wahren!
Die Balance zwischen zu viel Panik und übertriebener Vorsicht auf der einen Seite und kompletter Ignoranz und Sorglosigkeit auf der anderen Seite.
Der goldene Mittelweg zählt: Nimm die Situation an, nimm sie ernst und behandle sie mit Respekt und gesundem Menschenverstand!
Willkommen im Leben eines Nahrungsmittelallergikers! Und: Bleibt gesund!
Herzlichst
Kristina Schmidt
Hier die versprochenen seriösen Informationsquellen:
P.S. Kann Spuren von Wissen enthalten!
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