Ab welchem Alter können Kinder sich den Adrenalin-Autoinjektor selbst verabreichen?

In aller Kürze:

In diesem Nuss-Ecken-Artikel erfährst du,

  • welche Aspekte für die Selbst-Anwendung des Adrenalin-Autoinjektors bei Kindern zu bedenken sind,
  • ab welchem Alter Kinder die Selbst-Anwendung beherrschen könnten, sollten oder sogar müssten,
  • und wie Eltern ihr Kind bei der Entwicklung von Allergiekompetenzen unterstützen können.

Adrenalin-Autoinjektor-Kind-ab-welchem-Alter

(…hier auch zum Anhören im Nuss-Knacker-Podcast:)

Bei kaum einer Frage, die mir von Eltern in der Beratung gestellt wird, gehen die Antworten weiter auseinander als bei dieser:

Ab wann ist ein Kind eigentlich in der Lage, sich den Adrenalin-Pen (Adrenalin-Autoinjektor) selbst zu verabreichen?

Die Antworten variieren meist in einer Altersspanne von 4 bis 14 Jahren!

Gibt es das perfekte Alter?

Nein, das perfekte Alter gibt es natürlich nicht, und es ist gar nicht so leicht einzuschätzen, ab wann ein Kind sich den Pen theoretisch (!) selbst verabreichen könnte – und dies im Ernstfall tatsächlich auch praktisch (!) umsetzen würde!

Welche Aspekte spielen bei der Anwendung des Adrenalin-Autoinjektors eine Rolle?

Technische Aspekte: wie man einen Adrenalin-Pen auslöst

Das ist eigentlich das kleinste Problem, denn die Handhabung der meisten Autoinjektoren ist – im wahrsten Sinne des Wortes – kinderleicht und kann bzw. sollte mit einem passenden Trainerpen von klein auf geübt werden. Je nach Modell braucht man unterschiedlich viel Kraft, und für den „echten“ Pen braucht man meist noch etwas mehr Kraft als für den Trainerpen, aber schon kleine Kinder sind dazu theoretisch in der Lage. In meinen Online-Kinderschulungen fange ich mit 4-Jährigen an.

Mentale Aspekte: wahrnehmen, erkennen, entscheiden, überwinden

Eine allergische bzw. anaphylaktische Reaktion ist eine sehr komplexe Situation:

Ich (als Kind) muss zunächst mal erste Symptome wahrnehmen und als solche erkennen, muss ihren Schweregrad einschätzen, und muss dann Entscheidungen treffen: nämlich DASS ich Notfallmedikamente anwenden muss, und WELCHE Notfallmedikamente ich anwenden muss.

Im nächsten Schritt muss ich es tatsächlich auch TUN! D.h. ich muss mich trauen und überwinden, den Adrenalin-Autoinjektor tatsächlich auch zu benutzen.

Eltern, die schon einmal in der Situation waren, ihrem Kind während einer Anaphylaxie den Adrenalin-Pen zu geben, wissen, dass es selbst Erwachsene viel Überwindung kostet. Obwohl die Anwendung technisch „kinderleicht“ ist, sind die Hemmungen meist viel zu groß – leider, denn der Adrenalin-Autoinjektor ist das am schnellsten und effektivsten wirksame Notfallmedikament bei Anaphylaxie, mit dem man keinen Schaden anrichten, sondern nur helfen kann!

Kindern dürfte es nicht anders gehen: Während manche vielleicht noch eher kindlich-unbefangen damit umgehen, dürfte es den meisten recht schwer fallen, sich zur Selbst-Injektion zu überwinden, zumal die Angst vor Spritzen bei Kindern sehr verbreitet ist.

Kind ist nicht gleich Kind, insofern ist die Frage nach der Selbst-Anwendung des Adrenalin-Autoinjektors vielleicht noch mehr eine Frage des individuellen Charakters und allergiebezogenen Kenntnisstands als eine Frage des Alters.

Situative Aspekte: Begleitumstände einer anaphylaktischen Reaktion

So wie jedes Kind anders ist, kann auch jede allergische bzw. anaphylaktische Reaktion anders ablaufen:

Eine Anaphylaxie kann sich langsam, Symptom für Symptom, aufbauen, sie kann sich aber auch rasend schnell entwickeln, und im ungünstigsten Fall ist der/die Betroffene in kürzester Zeit überhaupt nicht mehr in der Lage, die eigene Situation einzuschätzen und angemessen zu handeln. Nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene AllergikerInnen sind dann auf schnelle Hilfe durch Anwesende angewiesen!

Speziell auf Kinder bezogen könnte man z.B. situationsbezogen fragen:

Handelt es sich um eine überraschende Anaphylaxie „in freier Wildbahn“ oder um eine kontrollierte Situation während einer stationären Provokationstestung?

Im Rahmen einer Provokation ermöglichen es manche Kliniken, dass betroffene Kinder ca. ab Grundschulalter sich selbst den Pen setzt – mit Unterstützung der anwesenden Erwachsenen und natürlich nur nach vorheriger Absprache bzw. mit Einverständnis des Kindes. Im Idealfall bedeutet dies eine unheimlich wertvolle Erfahrung für die Kinder, und speziell Jugendliche, die zunehmend allein unterwegs sind, sollten diese Chance nutzen!

Ist während einer Reaktion eine erwachsene Bezugsperson anwesend oder bin ich als Kind bzw. als Jugendliche*r auf mich allein gestellt?

Ist das Notfallset direkt bei mir oder muss ich erst überlegen, wo das Notfallset liegt, es holen und erst dann die Medikamente anwenden – zusätzlich zu all den komplexen Überlegungen, die ich als „mentale Aspekte“ weiter oben schon beschrieben habe.

(Apropos: Das Notfallset gehört immer und ohne Ausnahme zum Kind!)

Keine pauschale Antwort möglich

Was bedeuten all diese Überlegungen nun für die Ausgangsfrage:

Ab welchem Alter könnten / sollten / müssten Kinder in der Lage sein, sich den Adrenalin-Autoinjektor selbst zu verabreichen?

Wenn man nach einer „offiziellen“ Alters-Einschätzung sucht, dann stößt man auf die Definition des Merkzeichens H im Zusammenhang mit Anaphylaxie beim Schwerbehindertenausweis in Deutschland:

Hier wird „Hilflosigkeit“ bis zum vollendeten 12. Lebensjahr angenommen. Wenn die Kinder 13 werden, könnte man demnach davon ausgehen, dass sie vollständig in der Lage wären, ihr Allergieleben mit Anaphylaxie-Risiko zu managen, sich also auch im Anaphylaxie-Fall selbst helfen zu können (mehr Infos zum Schwerbehindertenausweis bei Anaphylaxie findest du hier in der Nuss-Ecke und in der ALLERGIE-FAMILY).

Das schließt natürlich nicht aus, dass sie nicht auch in jüngerem Alter schon den Adrenalin-Pen anwenden würden. Es bedeutet aber leider auch nicht im Umkehrschluss, dass sie es mit 13 automatisch können!

Da es sich um ein so komplexes, multifaktorielles Geschehen handelt, dürfte es wohl bei einer Differenzierung zwischen „theoretisch möglich“ und „praktisch umsetzbar“ bleiben – so wie auch Erwachsene weiterhin auf Hilfe (z.B. auch auf Assistenzhunde) angewiesen sind.

Wie du als Elternteil die Entwicklung der Allergiekompetenzen deines Kindes unterstützen kannst:

Auch Eltern sind verschieden!

In meiner Beratungspraxis erlebe ich sehr unterschiedliche Ansätze im Umgang mit der Allergie allgemein, und speziell mit dem Thema Adrenalin-Autoinjektor:

Manche sind sehr überbehütend, da soll das Kind am besten gar nicht wissen, was der Adrenalin-Pen überhaupt ist, damit es damit nicht belastet wird. Andere sind wiederum eher forsch und hätten gern, dass das Kind schon in der Kita selbst den Pen im Bauchgurt trägt. Wieder andere nehmen das Thema an sich nicht so ernst und verwahren den Autoinjektor zu Hause in der Schublade, weil noch nie etwas passiert ist…

Abgesehen von der zuletzt genannten Variante (die natürlich überhaupt nicht sein darf, denn ein Adrenalin-Pen wird normalerweise nicht ohne Grund verordnet und gehört immer, ohne Ausnahme zum betroffenen Kind!) möchte ich die verschiedenen Herangehensweisen gar nicht bewerten, denn jede Familie muss einen eigenen Weg finden, der sich für Eltern und Kind(er) gut im Sinne von „passend“ anfühlt.

Mein Empfehlung aus pädagogischer und elterlicher Perspektive:

Ich empfehle einen selbstverständlichen und zugleich spielerischen Umgang mit der Allergie, bei dem das Kind von klein auf altersangemessen immer mehr einbezogen wird, wenn z.B. mit dem Trainerpen oder einem abgelaufenen echten Pen unter Erwachsenen-Aufsicht geübt wird, wenn der Trainerpen und das Handeln im Notfall z.B. einer Lehrkraft oder der Mutter/ dem Vater eines befreundeten Kindes erklärt werden usw.

Die innere Haltung und auch die Sprache bzw. Wortwahl, die wir als Eltern vorleben, spielt hier eine ganz wichtige Rolle: Als Eltern haben wir hier die wichtigste Vorbild-Funktion!

Wenn ich als Mutter/Vater einerseits alles für mein Kind erledige und es vor allem beschütze, kann ich nicht erwarten, dass es mit 13 Jahren plötzlich „alt genug“ ist und ab sofort alles allein schafft.

Wenn ich als Mutter/Vater andererseits selbst Nachlässigkeit vorlebe, es mit dem Nachfragen im Restaurant und dem Spuren-Risiko usw. nicht so genau nehme, kann ich nicht erwarten, dass mein Kind vorsichtig ist und kein Risiko eingeht, wenn es selbstständiger wird.

Du merkst schon:

Das Thema Autoinjektor lässt sich nicht nur isoliert betrachten, sondern es schließen sich gleich zahlreiche weitere Fragen an in Bezug darauf, was Kinder in welchem Alter über ihre Nahrungsmittelallergien und Anaphylaxie wissen oder können sollten/ müssten/ dürften:

  • Ab wann können sie ihre Medikamente selbst bei sich tragen?
  • Ab wann, können/ sollten sie verstehen, welche Wirkung die einzelnen Notfallmedikamente haben bzw. auch nicht haben?
  • Ab wann sollten sie sich bewusst werden, dass eine anaphylaktische Reaktion lebensbedrohlich verlaufen kann (aber nicht muss), in sehr seltenen Fällen sogar tödlich?
  • Ab wann können sie allein zum Kindergeburtstag gehen, bei FreundInnen übernachten, auf Klassenfahrt fahren usw.?
  • Ab wann können sie selbst Lebensmittel auswählen?
  • Und WIE können sie das alles lernen?

Als Pädagogin könnte ich stundenlang über jede einzelne dieser Fragen sprechen…

Die wichtigsten Antworten bekommst du im Eltern-Online-Workshop am Di, 22.2.22 inkl. Aufzeichnung zum späteren In-Ruhe-Nachschauen und mit begleitenden Arbeitsblättern bzw. Checklisten für euren individuellen Umgang mit dem Thema. Hier kannst du dich anmelden: „Allergie-Kinder beschützen und loslassen: Selbstständigkeit Anaphylaxie-gefährdeter Kinder fördern“

(Tipp: Als Mitglied der ALLERGIE-FAMILY hättest du alle monatlichen Online-Workshops inklusive, mit unbegrenztem Zugang zu allen bisherigen und zukünftigen Workshop-Inhalten. Hier findest du alle Infos zur ALLERGIE-FAMILY.)

Anaphylaxieschulung für Kinder

Neben der Eltern-Vorbildrolle sind außerdem Anaphylaxieschulungen für Kinder enorm sinnvoll und wichtig! Was andere Erwachsene erzählen, hat einen anderen Stellenwert als das, was Mama oder Papa „predigen“. Auch das Zusammentreffen mit anderen Allergie-Kindern hat eine unheimlich intensive Wirkung auf die Kinder!

Das ist eine ganz häufige Rückmeldung nach einer Kinderschulung, wenn Eltern ganz erstaunt sind, wie begeistert ihr Kind mitgemacht hat. Ein Vater schrieb mir z.B.: „Es war das erste Mal, dass M. den Trainer-Pen in die Hand genommen UND sogar selbst an sich angewendet hat!“ Das Kind war 9 Jahre alt! In dieser kurzen Schulungszeit kann sich ganz schön was bewegen!

Online-Kinderschulungen sind aktuell für März 2022 ausgeschrieben. Die Plätze sind begrenzt, also warte nicht zu lang! Hier geht’s zu den Infos und Anmeldungen: Kinderschulungen

Ich freue mich, wenn ich euch beim Balanceakt zwischen Beschützen und Loslassen unterstützen und begleiten kann!

Herzlichst

Kristina Schmidt

P.S. Kann Spuren von Wissen enthalten!

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